Grossmutters Grünkohl
Der Rasen im Garten war silberweiß geworden. Die vereisten Gräser barsten unter den Schritten mit einem klirrenden Geräusch. „Es hat gefroren heute Nacht“, murmelte Großmutter zufrieden und schritt bedächtig über die brechenden Glashalme. Am großen Beet in der Mitte des Gartens machte sie Halt. Die grünen Blätter der Pflanzen hatten teils weiße, teils schwarze Ränder und wehten wie Trauerfahnen im kalten Dezemberwind. „Die sind alle erfroren!“, rief mit einer kleinen empörten Stimme das Kind, das auf einem der Blätter schaukelte. Es war weißhaarig, was seltsam war und man konnte nicht erkennen, ob man einen Jungen oder ein Mädchen vor sich hatte. Allerdings trug es eine grüne Latzhose und ein paar Flügel – grün mit weiß – die sahen fast genauso aus wie das Blatt auf dem es saß. „Grünkohl muss Frost haben. Mindestens einmal muss er was abbekommen, sonst ist er nicht gut“, entgegnete Großmutter, schon ein wenig verwundert ob der merkwürdigen Begegnung am frühen Morgen. Mit dem großen Küchenmesser schnitt sie den Grünkohl und warf die Blätter in den bereitgestellten Korb. Auch das Blatt mit der kleinen Gestalt. Die wühlte sich langsam wieder aus dem grünen Berg und meinte erstaunt: „Fragst du dich gar nicht wer ich bin?“ „Du bist ein Engel“, entgegnete Großmutter scheinbar gleichmütig, „gut zu erkennen an deinen Flügeln. Allerdings ist grün-weiß nicht unbedingt die Farbe der himmlischen Heerscharen.“ „Ihr immer mit euren Bilderbuchvorstellungen von blondgelockten Mädchen in schimmernden Kleidchen“, entrüstete sich der Engel, der auf dem Küchentisch saß und Großmutter beim Grünkohl putzen zusah. „Was machst du eigentlich hier?“, fragte sie ihn, wie nebenher. „Ich bin ein Bote“, erklärte er (was Großmutter sich schon gedacht hatte), „ich habe dir was auszurichten. Das hätte ich über unserem ganzen Grünkohlgeplänkel fast vergessen.“ Es gab ihr einen leisen Stich, als wäre da so eine dunkle Ahnung. „Worum geht es?“, fragte sie trotzdem mit forscher, nur ganz leicht zitternder Stimme, denn sie hatte beschlossen ihrem Ende, und darauf lief es ja wohl hinaus, denn warum sonst sollte einer alten Frau ein Engel begegnen, mutig und gefasst ins Auge zu sehen. „Ganz recht, es geht um dein Ende“, sang das himmlische Latzhosen-Kind mit glockenheller Stimme, als hätte es soeben Großmutters Gedanken gelesen. Jetzt? Jetzt gleich? Beim Grünkohl machen? Wie unordentlich die Küche aussah, das konnte man doch niemandem zumuten…. „Nein nicht gleich, du hast schon noch eine gute Spanne Lebenszeit vor dir, aber du sollst sie nutzen. Das ist meine Botschaft. Du hast schon so viel erlebt und deine Seele hat eine ganze Menge abbekommen – und nicht alles davon war gut. Aber was du erlebt und erfahren hast, das hat deine Seele wachsen lassen – in die Tiefe und in die Weite. Das sollst du weiter geben, an deine Kinder. Gerade an Weihnachten kommen sie doch alle zu dir, weil sie deinen Grünkohl essen und wieder mal zusammen sitzen wollen. Vielleicht servierst du ihnen ja diesmal mit dem Weihnachtsessen auch ein paar alte Geschichten.“ „Aber die will doch keiner mehr hören“, wich Großmutter aus, „alle reden bloß über neue Fernseher und Telefone; über die Arbeit und ihre Erfolge und streiten schließlich noch, wer das meiste Geld verdient.“ „Eben. Darum brauchen sie deine Geschichten – weil ihre Seelen nicht mehr wachsen – weder in die Tiefe noch in die Weite. Ohne die Erfahrungen von denen nur du ihnen erzählen kannst, werden sie verkümmern, wie eine Grünkohlpflanze der du die Wurzel abgeschnitten hast. Jetzt, in der kalten Zeit, suchen sie heimlich innen die Wärme, die ihnen von außen fehlt, da sind sie offener für das, was du zu sagen hast.“ Und während Großmutter langsam den Tisch deckte, flatterte der aufdringliche kleine Bursche ständig um sie herum und sang leise: „Erzähl` s ihnen, erzähl´ s ihnen!“ und seine Mini-Flügel dufteten doch tatsächlich nach Grünkohl. „Hier riecht es ja schon lecker“, bemerkten denn auch die Kinder den Duft, als sie das Zimmer betraten. Und dann saßen sie zusammen und Großmutter erzählte nun doch ein wenig von früher und was sie alles erlebt – und abbekommen hatte. Irgendwann hörte sie eine leise, hellgrün klingende Stimme an ihrem Ohr. „Das Rezept, gib ihnen auch dein Grünkohlrezept“, wisperte der Engel ihr zu (und „wieso klingt meine Stimme eigentlich hellgrün?“). Sie lächelte und erzählte und die Kinder hörten aufmerksam zu und die Worte fielen wie Regentropfen nach langer Dürre in die lauschenden Seelen. Der Abend wurde sehr lang, aber schließlich war er zu Ende und Großmutter ging müde ins Bett. Auf dem Nachttisch saß das geflügelte Kind und baumelte mit den Beinen im Wasserglas. Endlich wagte sie nun doch zu fragen, was schon den ganzen Tag auf ihrer Seele gelegen hatte: „Wann? Wann ist es soweit? Morgen?“ Oder schon heute Nacht?“ „Nö!“, war die Antwort und „Keine Ahnung. Den Job macht ein ganz anderer. Mein Auftrag waren die Seelen, und dass sie wieder zu wachsen beginnen. Ach so – und das Rezept“, grinste der Kleine und war verschwunden. In der Luft blieb nur ein leiser Geruch von Grünkohl zurück und der kleine Nachhall einer hellgrünen Stimme.
„Das glaubt mir nie im Leben jemand, aber sonst war das Geschichten erzählen heute gar nicht so schlecht“, dachte Großmutter und darüber schlief sie ein.
Die heilige Nacht aber duftete in diesem Jahr – und seit dem in jedem Jahr – nach Großmutters Grünkohl.
„Das glaubt mir nie im Leben jemand, aber sonst war das Geschichten erzählen heute gar nicht so schlecht“, dachte Großmutter und darüber schlief sie ein.
Die heilige Nacht aber duftete in diesem Jahr – und seit dem in jedem Jahr – nach Großmutters Grünkohl.
(Autor: Maren Ruden)
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