Der ungeduldige Weihnachtsstollen
von Helmut Wördemann
Es war einmal ein Weihnachtsstollen, der war ganz
durchknetet von dem Gedanken, als leckeres Frühstücksbrot mit Butter zu dienen.
Ja, es wurde ihm sogar in Aussicht gestellt, zum Nachmittagskaffee serviert zu
werden, wie Kuchen, wie richtiger Kuchen. Nun lag der süße Stollen aber schon
wochenlang im Brotfach, lag da in durchsichtigem, glänzendem Weihnachtspapier
mit Schneelandschaft und Christkind-Schlitten und musste mit ansehen, wie alle
anderen Brote gebraucht wurden: das Schwarzbrot, das Vollkornbrot; sogar das
Weißbrot und das Knäckebrot kamen regelmäßig an die Reihe und durften sich
bewähren. Ich glaube, der Stollen wurde ganz blass vor Neid und vor Ungeduld,
aber das konnte man nicht sicher sagen, weil er ja über und über mit
Puderzucker bedeckt war. „Da hat man soviel Aufhebens um mich gemacht,“ dachte
der Stollen bitter wie Sukade, „hat mich gesüßt und mit Rosinen gespickt. Ja,
sogar Marzipanstückchen hat die Hausfrau in mich hineingebacken. Und nun? Nun
bin ich überflüssig und gammele hier `rum, schön und lecker, aber unnütz.“ Doch
dann kam Heiligabend. Die Hausfrau stellte im Wohnzimmer die Geschenke auf. Und
nun, nun deckte sie in der Küche den festlichsten Kaffeetisch des Jahres; und
das Beste, das Edelste und das Leckerste, das sie zu bieten hatte, das war der
Weihnachtsstollen. Leider konnte er seine große, feierliche Wichtigkeit nicht
lange genießen, denn er schmeckte gar zu gut und war nach einer halben Stunde
gegessen.
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