Ja, ich nehme an
Tom raste mit seinem Rollstuhl die schräge Ebene zur Gartenpforte hinunter. Schnee lag ringsum, wie schon die Tage vorher. Er war allein. Das Tempo war unheimlich. Er fürchtete, jeden Moment gegen die eiserne Gartenpforte zu krachen.
Abrupt stoppte die Fahrt. Vor ihm erhob sich eine riesige Hand, zornige Augen funkelten ihn aus der Handfläche an und ein Mund schien etwas zu sagen. Zuerst konnte er vor Schreck nichts verstehen, dann aber hörte er die drohenden Worte: „Stopp! Bis morgen früh musst du dich entscheiden: j a, du nimmst dein Schicksal an, oder n e i n , du bekämpfst es weiterhin zäh mit ungewissem Ausgang!“
Die Szenerie wandelte sich. Kurze Bilder aus seiner glücklichen Kindheit und Jugend in Denver eilten vorbei. Andere zeigten ihm den erfolgreichen Weg zu seiner Professur dort am College. Seine Frau Susan und seine kleine Tochter Rosy erschienen und winkten ihm fröhlich zu. Dann der Schock des Unfalls, der grelle Scheinwerfer, später die heulenden Sirenen des Unfallwagens.
Schweißgebadet wachteTom auf. Er musste unwillkürlich an das Krankenhaus und die Zeit der Rehabilitation denken. Immer wieder hatte er die Ärzte ungeduldig nach der Wiederherstellung seiner gelähmten Beine befragt. Die Ärzte hatten ihm wenig Hoffnung gemacht, ihm aber alle Möglichkeiten einer ungewissen Besserung aufgezeigt, die nur mit vielen Operationen erreicht werden konnte.
Zum ersten Mal überdachte Tom seine Situation ganz nüchtern: im Rollstuhl zwar, ja, aber ohne Schmerzen, seine Professur am College erfolgreicher denn je. Susan und seine Tochter allerdings entfernten sich von ihm, wie es schien, weil er ständig mit seinem Schicksal haderte und ihnen das Leben dadurch nicht leichter machte. Sollte er sie am Ende durch sein ichbezogenes Verhalten ganz verlieren?
„J a“, rief er laut in den Raum, „ja, ich nehme an!“
Er spürte, wie die winterliche Sonne sein Zimmer durchflutete. Es waren ja Weihnachtsferien! Seit drei Tagen schon.
Im Haus war nicht viel von festlicher Stimmung zu spüren. Seine Frau hatte wohl die künstliche Tanne aufgestellt der Tochter wegen, auf jeglichen Schmuck in den Räumen aber dieses Jahr verzichtet. Noch in der vorigen Weihnachtszeit hatte sie alles liebevoll hergerichtet. Am Ende des zweiten Jahres nach dem Unfall gab sie offenbar ihre Hoffnung, aus der für sie trostlosen Situation herauszukommen, auf.
Heute konnte er ihre Enttäuschung verstehen. Mit seiner Behinderung hatte sie sich zuerst tapfer abgefunden und mit Schwung versucht, ihn sie vergessen zu lassen. Er aber kapselte sich immer mehr in sich und sein Leiden ein, fühlte sich minderwertig und zeigte seine Verzweiflung jeden Tag aufs Neue.
Kurzentschlossen griff er nach dem Telefon und bestellte bei einem einschlägigen Geschäft all die Weihnachtsdekorationen, die seinem Haus ein festlicheres Aussehen bescheren konnten. Dann ließ er sich von seinem Pfleger ankleiden und an den gedeckten Kaffeetisch bringen. Seine Frau und Rosy hatten bereits das Haus verlassen, wie an den anderen Morgenden auch.
Voller Elan malte er sich aus, wie die beiden staunten, wenn sie heimkamen und die geschmückten Räume sahen. Seine einzige Sorge war nur, dass sie heute zu früh heimkommen könnten.
Wie viel leichter das Leben plötzlich schien, wenn man sich auf etwas freute!
Und Tom freute sich jetzt richtig auf das Weihnachtsfest mit seiner kleinen Familie.
©I. Beddies
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